Juli 2021
Im letzten Jahr hatte ich an der Internationalen Chorakademie in Krems nicht teilgenommen. Das Hauptwerk war damals Schumanns „Das Paradies und die Peri“. Drei Gründe haben mich an der Beteiligung von dieser sehr liebgewonnenen und geschätzten Woche abgehalten. Der grade überstandene Lockdown mit seinen ungewohnten Maßnahmen, das Verbot in Deutschland das Chorleben wieder aufzunehmen. Und meine Bandscheibenproblematik, die verhindert hätte mit dem Auto die weite Strecke von München nach St. Pölten in N.Ö zu fahren.
In diesem Jahr hat sich alles wunderbar gefügt. Es kam nur eine ganz kleine schüchterne Anfrage von meinem Arbeitgeber, ob ich nicht vielleicht doch auf meinen Urlaub verzichten möchte. Die angespannte Arbeitssituation habe ich ja schon im vorherigen Blogbeitrag angedeutet. Ich wollte nicht, und so habe ich sehr schöne und erfüllende 10 Tage im Hippolythaus in St. Pölten erleben können. In Krems sind an der Pädagogischen Hochschule Umbaumaßnahmen im vollen Gange und deshalb wäre dort kein Platz für uns.
Für St. Pölten spricht zudem, das die Chorgemeinschaft miteinander essen kann und das fördert den Zusammenhalt nicht unerheblich. Die Mahlzeiten sind wirklich gut und heben durch ihre Qualität die Laune. Einige Leute beklagen deshalb die Gewichtszunahme nach dieser Woche. So richtig zufriedenstellen kann man die Menschheit halt eh nicht immer. ;-)
Ich hatte ein schönes und ruhiges Zimmer ergattert, weil ich bei der Anmeldung schnell war. Einige Teilnehmer mußten sich außerhalb in Jugendherberge oder Pensionen einmieten, denn es gibt nicht so viele Betten in dem kirchlich geführten Haus wie Chorsänger die an der Woche teilnehmen möchten.
Es wurde ein detailliertes Sicherheitskonzept ausgearbeitet, das vorab verschickt wurde. Die Angst ist groß einen Cluster entstehen zu lassen, wenn so viele Menschen auf einen Haufen in geschlossenen Räumen aufeinander treffen.
Es sollte jeden Tag ein Selbsttest vorgenommen werden. Die österreichischen Teilnehmer haben die Möglichkeit das Ergebnis über eine App zu dokumentieren. Die ausländischen Teilnehmer sollten ihre Tests jeden Tag beschriften und fotografieren. Es wurden unregelmäßige Kontrollen angekündigt um das zu überprüfen. Soweit ich das beurteilen konnte, hat es auch ganz gut geklappt.
Was bei mir nicht geklappt hat, war schon mal etwas ganz Grundsätzliches: ich hatte meinen Impfausweis zuhause vergessen. Großartig. Man sollte nicht meinen, das ich in der Pflege arbeite und somit ein wenig mehr in der Thematik drinnen wäre als beispielsweise ein Sachbearbeiter aus dem Finanzwesen.
Offensichtlich hat es auf der ICAK sehr viele geimpfte oder genesene Sänger gegeben, denn es wurde die Maskenpflicht aufgehoben. Das hatte den wunderbaren Effekt, das sich sogleich die schöne und vertraute kuschelige Chornähe eingestellt hatte.
Nein, auf der Stelle stimmt nicht ganz. Zu mindestens nicht für mich. Es war schon ein wenig seltsam in die unverhüllten Gesichter zu blicken. Auf so viele. Alle auf einen Haufen.
Ich habe einige Tage gefremdelt. Und mich unsicher gefühlt. War ein wenig überwältigt durch die schiere Menge der Menschen. Die Nähe. Obwohl ich mich so sehr auf die lieben Gesichter gefreut hatte. Denn auch in diesem Jahr haben sich viele angemeldet, die schon oft mit dabei waren.
Ich bin die ersten Tage früh ins Bett gegangen. Nach einigen Tage der Akklimatisation bin ich in die gewohnten Verhaltensmuster auf einer Chorwoche zurückgefallen und wie immer, abends lange wach geblieben und das Zusammensein mit allen sehr genossen.
Jeder von uns ist älter geworden, jeder hat seine Erfahrungen in und mit der Pandemie gemacht. Der eine oder andere ist daran erkrankt aber auch wieder gesundet. Insgesamt kann man erkennen das die Österreicher bedeutend entspannter mit den vergangenen Jahr umgegangen sind als wir hier in Deutschland. Es klingt immer eine leichte Verwunderung mit: „Geh, hörst. Was regts ihr euch denn immer so auf?“
Ich hatte meine Noten für Flöte und Klavier dabei und geplant in der Mittagspause abwechselnd Klavier zu üben, (mein Lieblingsklavier, der Kawai Flügel steht in St. Pölten) und am anderen Tag Flöte. Hat aber nur drei Tage nach dem Mittagessen mit der Flöte funktioniert. Die Mittagspause mußte anschließend wegen der drastisch reduzierten Nachtruhe zum Schlaf-nachholen verwenden werden. Das Üben am Klavier blieb leider auf der Strecke.
Wit haben einen Gottesdienst in der Stiftskirche Herzogenburg und den Abschlußgottesdienst im Dom zu St. Pölten mitgestaltet. Gegen Ende der Woche findet das weltliche Konzert aus den Studiochören statt. Es gibt Fans der verschiedenen Chöre, von den Leitern und dem entsprechenden Liedgut.
In diesem Jahr haben wir im Plenum vier kleinere Werke von Mozart einstudiert. Die Spatzen- und die Krönungsmesse, die Davide Penitente und eine Litaniae Lauretane. Die beiden letzteren werden eher selten aufgeführt und waren für etliche Sänger durchaus eine Herausforderung.
Der Chorleiter vom Plenum, gleichzeitig Gründer und Leiter des Schönbergchors und ehemaliger Professor für Chorleitung und chorische Stimmbildung an der Musikuniversität Wien, ist über die Pandemiezeit nicht weniger dynamisch geworden, als noch von vor zwei Jahren. Einzig, er trägt nun auch einen Bart. Seine witzigen Anmerkungen und Vorschläge zur Ausführung der Werke könnten wahrscheinlich Bände für eine erbauliche Lektüre füllen, würde man sie sich notieren.
Das eine Studio hatte als Themenschwerpunkt alte Musik. Das war am Ende mein Lieblingschor. Sie haben viel von dem Liedgut aus dem „Ars Musica“ und „Chor aktuell“ gesungen, das ich noch von meinem Vokalkreis Cantabile kenne. Es gibt den Oberstimmenchor der Frauen und das Studio mit der bunten Mischung. Ich habe mich, wie immer, beim Jazzchor eingeschrieben.
Der Studiochorleiter hat in diesem Jahr ein paar experimentelle Pläne für uns ausgeheckt. Wir haben, von ihm vertonte Gedichte (besser: Beschwerdebriefe) von August Walla aufgeführt. Das ist ein österreichischer Künstler, der der "Art Brut" zugeordnet wird. Sehr cool!
Weitere Herausforderungen: das liebliche „O Täler weit, oh Höhen“ wurde von uns Chorsängern gekonnt verfremdet und eröffnete mal einen ganz anderen und neuen Eindruck auf das allzu bekannte, fast schon abgenudelte Lied. Ein Samba von George Duke, ein Arrangement von Kirby Shaw: „Java Jive“ und einen Gospel rundete das Programm ab.
In einer der Stunden vom Jazzstudio wurden wir Chorsänger in kleine Grüppchen eingeteilt und dann mit Do, Re, Mi, Fa, So und La und der entsprechenden Tonhöhe bezeichnet. Eine Freiwillige hat mit uns Klavier gespielt. Das war der Hammer, sie ist geradezu wild geworden. Wir waren das Orchester und haben auf ihre Zeichen hin reagiert. Stakkato, Haltetöne, Akkorde gebildet, Crescendi und Decrescendi. Es gab einen musikalischen Höhepunkt und wir waren nach unserer Darbietung fast erschöpft. Das war ziemlich außergewöhnlich und selbstredend hat sich danach keiner mehr getraut uns zu dirigieren.
Zusätzlich gab es heuer die Möglichkeit in den Studiochören Dirigieren 1, 2 oder 3 zu belegen, Komposition und Gehörbildung. Aufs Dirigieren habe ich in diesem Jahr verzichtet, ich dachte mir schon, das ich sicherlich durchs Plenum und dem Studiochor alleine genügend beschäftigt wäre.
Gehörbildung ist allerdings ein Muß. Der Professor hat erstaunt nachgefragt, warum ich so treu jedesmal sein Angebot wahrnehme. Ich mußte zur eigenen Beschämung gestehen, das ich übers Jahr alles wieder vergesse. Und es schadet nie, solche Inhalte ein weiteres mal zu hören bekomme. Es werden Sekunden, Terzen, Quarten usw vom Grundton angesteuert. Weiter: Grundton, eine Quarte nach oben singen, eine Sekunde nach unten, eine Terz nach oben, den Grundton wieder finden. Das kann ich aber nicht so gut, das ist mehr ein herum raten und daneben stolpern.
Er sucht sich immer wieder ein neues, übergeordnetes Thema für die ICAK aus. Heuer haben wir uns eines der ersten notierten Werke der Musikgeschichte vorgenommen. Einen Teil aus der „Messe de nostre dame“ von Guillaume de Machaut. Die erste vollständig erhalten gebliebenen vierstimmige Vertonung aus dem Mittelalter. Es ist kaum zu fassen, so etwas Altes zu singen dürfen. Ungewohnte Harmonik und eine strenge struktursuchende Rhythmik aus der Ars Nova.
Am Ende der Woche werden die Werke aus der Kompositionsklasse mit den Chorsängern aufgeführt. Es ist bewegend zu sehen, wie stolz und glücklich die Komponisten sind, wenn ihr Vokalwerk aufgeführt wird und sie es zum ersten Mal gesungen von menschlichen Stimmen hören zu können.
Das Wetter war in diesem Sommer sehr wechselhaft. Es hat eigentlich jeden Tag geregnet. Manches mal sind wirklich heftige Gewitter über uns hergezogen. Am Abreisetag gab es leider Warnmeldungen, das die Donau aufgrund der heran wälzenden Wassermassen vom Bundeheer gesichert werden mußte. Das heißt, das ich nicht in die Wachau fahren konnte um mir eine Steige mit Marilllen zu kaufen. Aus denen ich so gerne nach der Rückreise meine Marmelade einkoche. Das war sehr sehr schade.
Ich kann nicht sagen, das ich es heuer erfolgreich geschafft habe an jedem Tag mit einem „noch-nicht-so-bekannten“ zu reden. Ich war erstmal beschäftigt genug mit dem menschlichen Miteinander meiner, mir vertrauten, Leute umzugehen. Daran mußte ich mich nach der langen Isolation gewöhnen.
Trotzdem ist das soziale Gefüge unter den Sängern fluide und es ist schön trotz aller Verbundenheit mit der„eigenen“ Blase die Eindrücke der Gespräche mit anderen zu verarbeiten und zu sortieren.
Ich hatte bei einigen der Teilnehmer das Gefühl gehabt, das eine nachpandemische Lebensgier eine wichtige Rolle spielt. Das wir nach der langen Zeit der Stille und Zurückgezogenheit unseren Gedanken und Gefühle freien Lauf lassen möchten. Wie wild und dunkel sie auch immer sind! Wir suchen Akzeptanz und Nähe. Und finden sie alleine dadurch, weil wir alle, jeder einzelne, eine große Gemeinsamkeit haben: wir haben uns für diese Woche angemeldet um zusammen zu singen. Was für eine unvergleichliche und wunderschöne Beschäftigung.
Wir haben gesungen, getanzt, gelacht, geweint, gegessen, Wein getrunken, uns zugehört und erzählt, ermutigt und applaudiert. Zu wenig geschlafen und jeden Tag viel zu früh aufgestanden. Neue Bekanntschaften geschlossen, alte Begegnungen wieder aufgenommen. Herausforderungen angenommen und Neues gelernt.
Erfüllte 10 Tage. Keine Sekunde Langweile. Musik! Wie sehr habe ich das vermisst.
Und ja, nächstes Jahr, ganz bestimmt und sehr gerne wieder.