Mai 2020
Hurra. Ich habe wieder Klavierunterricht. Was bin ich froh!
Die Neue Jazzschool hat zu ihren Schülern während des gesamten Lockdown immer Kontakt per Email gehalten. Wir wurden von jeder Veränderung schnell informiert. Sie verschickten vor Wiederaufnahme des Unterricht einen 25-Punkte-Hygieneplan der bei Beginn und am Ende von jeder Stunde beachtet werden muß. Sie wollen wirklich sicher gehen, daß in der Schuleinrichtung kein neuer Cluster entsteht, deshalb haben sie ihn dreimal versendet. Im Unterricht steht nun ein Keyboard in der entgegengesetzten Ecke des Raumes und der Dozent begleitet mich von diesem aus. Also im großen und ganzen kein großer Unterschied zu vorher, wo er eh zwei Meter hinter mir auf einem Stuhl hockt.
Mein Dozent scheint die Zeit gut überstanden zu haben. Er hatte mit seinen anderen Schülern Unterricht übers Internet abhalten können. Ich vermute mal, das ich die einzige Schülerin bin, bei der das nicht möglich war. Ist ja schon fast ein bisschen peinlich so retro zu leben. Eine Spülmaschine habe ich, nebenbei gesagt, auch nicht.
Die bisher ausgefallenen Stunden werden nun als Doppelstunden abgehalten. Ich glaube nicht, das ich mich zwei Stunden lang am Klavier konzentrieren kann. Deshalb habe ich vorgeschlagen ob wir in der extra Stunde nicht Gehörbildung, Harmonielehre, Rhythmik und so einen Kram behandeln könnten. Habe ja nicht zum ersten Mal das Gefühl, das ich mich mit dieser Thematik mehr beschäftigen sollte.
Kann zwar sein das ich diesen Vorschlag schnell bereuen werde, wenn ich dann mal wieder nicht weiter weiß. Aber ich lass es drauf ankommen. Ein bisserl was bleibt sicher hängen. Hatte vorab eine Warnung an den Dozenten verschickt, daß ich möglicherweise ihn hassen werde weil er so verrückte und abstrakte Dinge von mir hören will. Oder wahlweise mich, weil ich eben nichts vom Inhalt und Thema verstehe. Er hat tapfer und unerschrocken auf meinen Vorschlag reagiert.
Das kleine Stück ohne Titel hat sich einigermaßen flüssig angehört. So viel hat er nicht korrigieren müssen. Nun, es sind viele Wochen ohne Unterricht vergangen und ich habe es halt immer wieder so vor mich hin geübt. Habe spaßeshalber und auch aus Langeweile all die alten Stückchen aus dem Ordner mal durchgespielt. MannMannMann. Da ist viel verloren gegangen. Der kleine Walzer von vor zwei Jahren hat von vorn bis hinten nicht funktioniert. Unmöglich das rhythmisch hinzubekommen. Keine Ahnung weshalb er damals so optimistisch war, das ich sowas jemals spielen lernen könnte.
Nach dem Unterricht erfüllt mit großer Klavierfreude zu meiner Mutter gefahren, das erste Mal seit langen mit der S-Bahn. Sie ist mächtig froh das langsam wieder Normalität in unser aller Leben einkehrt.
Bild von @pianoaesthetics
Danach habe ich gleich meinen klassischen Klavierpädagogen antelefoniert und ihn gefragt ob er mich nun auch schon wieder unterrichten würde. Er hatte geplant Präsenzunterricht mit seinen Schülern erst nach den Pfingstferien abzuhalten. Für mich hat er eine Ausnahme gemacht und kommt jetzt schon in meine Wohnung. Er ist sehr lebhaft und geprägt von seiner französischen Familie und es fällt ihm sichtlich schwer die physical distance einzuhalten. Alors, nun bei der Begrüßung also keine bisous links, rechts und wieder links auf die Wange. Und vorerst kein 4-händiger Diabelli nebeneinander an meinem E-Piano.
Ich glaube das er erfreut war, das ich die drei Burgmüller Etüden nun so sicher spielen kann. Notentechnisch fast immer richtig. Weiterhin verbesserungswürdig ist natürlich das Beachten der Tondauern und der Rhythmik. Berichtigungen fallen mir zwar zum jetzigen Zeitpunkt etwas leichter, weil ich die Noten einigermaßen drauf habe. Deshalb habe ich noch Kapazitäten frei um mich mit den üblichen Problemen zu beschäftigen.
Das ich mir die „Kindergesellschaft“ selbstständig erarbeitet habe, hat er mit Begeisterung zu Kenntnis genommen. In dem Opus 100 wird in jedem der Stücke ein anderes Problem, Thematik oder eine Fähigkeit behandelt und die geübt werden kann. In "La Reunion" geht es bspw. um die Terzen.
Deswegen hat er mir Übungen von Brahms zu den Terzen gezeigt. Das war wirklich ein sehr amüsanter Teil in der Stunde, weil meine Finger meist nur aus Versehen mal in der Lage waren, auch nur eine dieser Übungen richtig hinzu bekommen. Wir mußten beide dabei viel lachen, was bekanntermaßen das Immunsystem stimuliert. Ein intaktes Immunsystem ist in diesen Zeiten sehr vorteilhaft.
Auch er hat den Lockdown gut überstanden. Durch das schöne Wetter konnte er sich mit seiner Familie von morgens bis abends im Garten aufhalten und hat es sehr genossen so viel Zeit mit seinen Kindern verbringen zu können.
Meine Chöre dämmern noch fest schlummernd (wie Miriel Serinde in den Gärten von Lórien) im Corona-Koma. Es ist, was Gesang anbetrifft, keine Aussicht auf eine baldige Lockerung zu erkennen.
In der Arbeit füllt sich mein Stundenpensum wieder. Die Patienten, die in dieser Zeit von den Angehörigen versorgt wurden, kehren nun peu a peu wieder in mein Arbeitsleben zurück. Und das ist auch sehr gut so: ich habe einen fast 100 jährigen Herrn, der wurde in diesen langen Wochen mühselig von seiner 94 jährigen Ehefrau gepflegt. Das muß man sich mal vorstellen!
Ich bin wirklich froh wieder Unterricht zu haben. Das Beschäftigen mit Musik, mit Tönen und Klänge ist mir wichtig und bedeutet mir so viel. Auch wenn ich gelegentlich, aber nun gottseidank immer seltener, zur Verzweiflung neige, würde ich dies um nichts in der Welt wieder aufgeben wollen.