Feintuning

Oktober 2019
In meinem klassischen Klavierunterricht arbeite ich immer noch an der dritten Burgmüller Etüde, der ersten vierhändigen Diabelli Sonate und dem Andante aus der Clementi Sonatine.

Notentechnisch bin ich soweit orientiert. Meistens jedenfalls. Dann gibt es Tage, da stolpere ich über eine Stelle, kann sie plötzlich nicht mehr auswendig spielen, bleibe immer und immer wieder an dieser einen Stelle hängen. Denke mir, "Okay, hast halt vergessen wie's weitergeht. Dann schaust in die Noten, liest sie und spielst sie vom Blatt".

matthew t rader 1147836 unsplashAber auch da habe ich urplötzlich keinen Peil mehr wie es an dieser Stelle weitergeht. Ich probiere rum, versuche die Noten zu benennen und scheitere schon daran das „F“ links und das „A“ rechts zu bestimmen. Meine Finger fühlen sich so an, als gehörten sie gar nicht mehr zu mir. Dabei konnte ich diese Sequenz gestern und vorgestern noch problemlos spielen. Ich lasse das Stück liegen, übe etwas anderes. Oder nehme mir den Hanon vor, bin inzwischen bei Übung Nummer 6. Versuche nicht gewaltsam diese „vergessenen“ Stellen zu bewältigen. Nachher bin ich traumatisiert und fange an sie zu hassen. Mir fällt da „Beautiful Love“ ein, wo ich am Ende die unmöglichsten Verspieler an den unterschiedlichsten Stellen hinein geübt habe.

Der Hanon lenkt mich immer gut von allem anderen ab. Da müssen sich nur die Finger bewegen, keine Dynamiken beachtet werden, keine Emphase. Tempo ist auch egal. Hirnfunktion ist fast ausgeschaltet. Diese Übungen erarbeite ich mir alleine. Mein Klavierpädagoge schaut zwar gelegentlich ob ich sie einigermaßen richtig mache, aber ein ganz großer Fan davon ist er nicht. Ich wäre seine bisher einzigste Schülerin, die daran Freude hat. Er empfiehlt das ich immer nur die erste Übung der einzelnen "Kapitel" übe und den Rest einfach ignorieren soll.
Bei mir wirken die Übungen, wie abends vorm Schlafengehen im Bett Sudoko oder Str8ghts lösen. Die Zahlen von 1 bis 9, alles darüber ist nicht interessant. Sie kanalisieren die Gedanken in enge, streng vorgebene Bahnen und das beruhigt mich.

Bei den Sonaten sucht er sich ein oder zwei Stellen aus, an denen wir arbeiten können. Das „feintuning“ halt. Da findet sich immer eine Stelle, in der ein besserer Fingerwechsel gut wäre, eine Note länger gehalten, oder der Daumen schon auf die nächste Taste geht und der kleine noch auf der vorherigen Harmonie verharrt. Dieses Herumfieseln macht mir Spaß. Zwar bin ich häufig zwischendrin ganz verwirrt von den neuen Anforderungen. Aber meist hört sich die Stelle nach einigen Tagen üben viel besser oder geschmeidiger an.

Mein Lehrer entschuldigt sich dann so penibel und lästig zu sein. Ich: "Doch, doch. Mach nur weiter so. Ich liebe das".

In der letzten Stunde war ich leider wieder mal besonders ungeschickt und unbelehrbar. Da erwachte sein beruflicher Ehrgeiz. Er hat beim nächsten Schüler angerufen, um ihm mitzuteilen das er erst eine halbe Stunde später zu ihm kommen werden würde!!!