Ein weiterer Grund weshalb ich um ein Konzert meines Klavierlehrers auf seiner Gitarre gebeten hatte, war der Zustand meiner linken Schulter. Ich hätte selbst keinen Ton mehr spielen können. Die Schmerzen haben sich seit dem Frühjahr immer wieder bemerkbar gemacht und waren nie wirklich weg. Vor den Sommerferien wurden sie unerträglich und ich war viele Wochen krankgeschrieben. Eine wahre Katastrophe für meinen Arbeitgeber, weil wegen der Ferienzeit mehrere Kollegen im Urlaub waren und mein Totalausfall für die anwesenden Mitarbeiter nur mit viel Engagement aufzufangen war. Das schlechte Gewissen deshalb lässt sich nur schwer abstellen.
Aber die Schmerzen waren höllisch: kurze Nächte, weil ich keine Position finden konnte in der komfortables Schlafen möglich war, eingeschränktes Bewegungsausmaß, Injektionen mit Lidocain, kein Autofahren, kein Radeln, selbst Gehen war durch die Erschütterung dabei unangenehm. Beim An- und Ausziehen der Kleidung musste mir in den ersten Tagen geholfen werden, BH-Träger auf der Schulter kaum zu ertragen. Hohe orale Gaben von Cortison, die dann nach drei Wochen Agonie den Schmerz zu mindestens erträglich gemacht haben.
Dies war mein physischer Zustand. Und das im wunderschönsten und wärmsten Sommer seit vielen Jahren.
Klavierspielen und üben nur ein verlockender Gedanke.
Dann: Mein Montagschor veranstaltet ein Sommertreffen zum Ratschen. In der Tischrunde habe ich mal wieder von der Leidenschaft der ich mich verschrieben habe und dem Auf und Ab meines Lernprozesses reden dürfen. Unter Sängern findet man mit diesem Thema eher einen Gesprächspartner als im sonstigen Freundeskreis. Es gibt interessierte und verständnisvolle Zuhörer. Ich habe vor mich hin sinniert wie großartig es wäre, eine Art Crashkurs in den Sommerferien zu absolvieren. Um all die Dinge und Fertigkeiten kennen zu lernen für die im Unterricht an der Jazzschule keine Zeit ist. Tonleitern üben, richtige Finger- und Handposition, Haltung, Tonhöhen ins Hirn hämmern, Basics halt. Um mich technisch sicherer am Klavier zu fühlen.
Eine Sängerin aus dem Sopran erwähnte das ihr Schwiegersohn diplomierter Klavierpädagoge sei und vielleicht nicht abgeneigt wäre so eine Idee aufzugreifen. Sie sagte aber auch, daß er mit seiner Erfahrung und Intuition nach einer Stunde klar einschätzen kann ob es mit uns beiden funktionieren würde. Und ehrlich und kompromisslos sagen würde, wenn nicht, denn es wäre sonst für beide Seiten keine Freude.
Vielleicht war ich noch etwas von den Schmerzmitteln umnebelt und nicht klar im Kopf, auf jeden Fall habe ich ihn kontaktiert und er erklärte sich bereit es mit mir zu versuchen. Habe ihn und auch mich selber für verrückt erklärt, aber die Weichen für einen Kennenlernkontakt waren gestellt.
Das erste Treffen bei mir zuhause: Er ist etwas über 35 Jahre alt, sympathische Wuschellocken auf dem Kopf, schöne dunkle Augen mit so langen und dichten Wimpern das es schon fast eine Gemeinheit ist. Feinnervige und lebendige Pianistenhände, zugänglich und temperamentvoll, eine riesige Tasche mit Notenheften. Noten von Diabelli, Kabalevsky, Burgmüller, Czerny, Schumann, Schubert, Chopin. Es ist ganz klar, wer der Romantiker in dieser Beziehung ist! Mit diesem musikalischen Genre habe ich wenig Erfahrung.
Ich selbst liebe die Renaissance und den Barock etwas mehr. Aber durch ihn hätte ich die unerwartete Gelegenheit diese Musik kennen und verstehen lernen und vielleicht auch eine Zuneigung dafür entwickeln zu können. Aber mir geht es im Prinzip ja um das Vermitteln geeigneter Fertigkeiten für eine Anfängerin zum Klavierspielenlernen. Der Inhalt ist momentan Nebensache für mich. Monteverdi, Desprez, Palestrina, di Lasso, Striggio, Tallis oder Bach kenne und höre ich selber. Also wäre es doppelt spannend sich auf den Unterricht mit dem neuen Dozenten einzulassen.
Ich soll ihm einige der Stücke aus dem Jazzunterricht vorspielen. Es hat Beifall gefunden, daß ich diese größtenteils auswendig spielen kann. Die Qualität meines Klaviers wird diesmal von einem Experten gelobt.
Gottseidank werde ich als unterrichtswürdig befunden und so nahm unser Kennenlernen seinen Lauf. Durch seine Erfahrenheit hat er schnell meine Schwächen raus und kann sehr gut auf meine technischen und und eben auch auf die physische Einschränkungen (siehe Schulter, die immer noch nicht belastbar war. Aber was kann man sich nicht alles mit der rechten Hand auf dem Klavier erarbeiten) eingehen.
Wenn ich wieder mal in Verwirrung gerate, weil ich nicht weiter weiß, lässt er mich schnell eine simple Tonleiter üben, damit ich abgelenkt bin. In dieser Hinsicht habe ich ihn inzwischen durchschaut. Diesen Trick muß ich für mich an der Jazzschule auch einführen.
Er geht forsch an die Sache und nach zwei Wochen habe ich fünf Stücke an denen ich üben soll. Ein Scherzo, ein Marsch, ein Präludium mit ganzen und gebrochenen Septakkorden (!), ein kleiner wehmütiger Walzer und ein süßes Werk von Burgmüller, das ich sogar auf meinem E-Piano unter den Lektionen in der Technik eingespielt, gefunden habe. Das höre ich mir gelegentlich an und träume davon das ich es eines Tages auch mal so gut spielen werde.
Natürlich kann ich auch keines der anderen Stücke fehlerfrei, verspiele mich ständig und merke selbst daß ich rhythmisch noch nicht richtig bin. Wie immer halt! Macht aber gar nicht, zu mindestens meint der Klavierpädagoge das. Es ist seine Stärke, das er immer etwas an meinem Spiel findet was zu loben wäre. Und wenn es nur die Handhaltung ist und der Rest offensichtlich unterirdisch. Ich merke wie ich aufatmen kann und ein wenig die Furcht vor dem Falschspielen verliere.
Während der Ferien erhalte ich ca. 2-3 x pro Woche eine Stunde und danach steht mein Entschluss fest: ich werde zweigleisig weiter machen. Der Unterricht an der Neuen Jazzschool wird mir hoffentlich durch die zusätzliche Einflussnahme etwas leichter fallen. Sodass ich mich dort mehr auf die intellektuelle Herausforderung konzentrieren kann und nicht ständig mit den technischen Schwierigkeiten auf den Nebenkriegsschauplätzen kämpfen muß.