Viele Tage später:
Nachdem ich mich wieder beruhigt und tatsächlich eine ganze Woche das Klavier nicht angerührt habe, konnte ich mich erholt von Frust und Selbst-Enttäuschung an meine Aufgabe machen. Habe was Neues entworfen. Es sollte was mit halben Notenwerten werden. Bin mir nicht mehr so sicher, weil ich in der letzten Stunde außer mir war und mich nicht mehr an alles erinnern kann, was wir da besprochen hatten. Das ist so, wenn ich meinen eigenen Erwartungen nicht gerecht werde und dann in einen Strudel negativer Gedanken gerate.
Ist mein Widerstand gegen die Aufgabenstellung gefallen, geht es erstaunlich leicht. Konnte mich in kurzer Zeit auf eine kleine Melodie einstimmen, mehrere Variationen dazu entwerfen und einem leider nicht ganz geglückten Ende. Ein kleines erstes Problem: das Stück entwickelte sich in einen 6/4 Takt und ich hatte noch nicht einmal eine Bezeichnung dafür. Mußte erst im Internet nachforschen wie das Ganze rhythmisch bezeichnet wird. Es ist ein wenig walzerartig und ich habe das Thema in drei Varianten a drei Takten geschrieben. Es wären mir noch weitere Möglichkeiten eingefallen, aber es ist von Variante eins auf zwei und gar von 2 auf 3 immer komplizierter geworden, so daß ich es kaum selbst mehr spielen konnte. Wer weiß was mir bei dann bei Nr. 6 passiert wäre?
Ich habe die Noten wieder in MuseScore gesetzt und so konnte ich mir am Ende anhören wie es wirklich und richtig klingen soll.
Danach war ich ruhig und zufrieden mit mir. Dachte mir mein Dozent wird mir sicher nichts unmäßiges zumuten wollen. Er weiß besser als jeder andere was ich alles nicht kann und vertraut darauf, das ich mich wenigstens im Ansatz bemühe seine Aufgabenstellung zu bearbeiten. Es ist ja sehr gut möglich das ein Plan hinter dem Ganzen steckt, schließlich absolviert er sein pädagogisches Aufbaujahr an der Neuen Jazzschool München. Was er mir halt nicht abnehmen kann, ist die Verzweiflung die bei mir wegen "Nichtkönnens" aufkommt. Das ist auch nicht seine Aufgabe, das muß ich schon selber mit mir ausmachen können.
Was ich aber von ihm erwarte und das über-erfüllt mein Dozent, ist das er ruhig bleibt, wenn ich in Aufregung gerate. Nicht auszudenken was passieren würde, wenn wir gemeinsam zu zweit die Nerven wegwerfen würden!
Was mich eigentlich überrascht, und zwar jedes Mal, in jeder Stunde aufs Neue, ist, wie mich Musik von der hellsten Freude in tiefen dunklen Kummer stürzen kann. Es überrascht mich nicht nur, es bereitet mir manchmal fast eine Art von Pein. Wäre das Spielen oder Üben, manchmal auch das Zuhören noch so eine "Sensation", wenn ich schon fünf Jahre Unterricht hinter mir hätte?
Als ich anfing im Chor zu singen, habe ich ähnlich bewegendes empfunden. Wir hatten Mozarts "Requiem" einstudiert. Vor lauter Anspannung zitterten mir häufig die Beine. Wenn ich in dieser Probenphase nachts mal wach wurde, ist eine kleine Sequenz aus dem Werk wie eine Wiederholungschleife in meinem Kopf abgelaufen. Ich hatte auch die Notenzeilen vor Augen. Ohne das ich die Notenhöhen gekannt habe. Und dabei mag ich Mozart gar nicht mal so gerne. Aber es war gleichfalls so eine Art innerliche Sensation für mich.
Als wir später das W.O. von Bach erarbeitet hatten, habe ich mich in den Proben sehr oft zusammenreißen müssen. Ich hatte manchmal das Gefühl ich muß gleich in Tränen ausbrechen, weil mich diese Musik und wie sie zusammengesetzt ist, bedeutend mehr in meinem Inneren anspricht. Ist die Musik von Bach erklärbar? Ist sie so universell, wie manche behaupten? Und doch gibt es Menschen die können mit seiner Musik gar nichts anfangen.
Was sagt sie mir? Sie legt sich über meine Seele, und jeder Mensch hat Verwundungen dort erlitten, wie ein schützender Mantel. Und spendet Trost. Aber auch Zuversicht. Eine kosmische universale Harmonie mit einem Versprechen, dem ich zu gerne glaube: alles wird gut!
CPE. Bach schrieb über seinen Vater: "Die Musik meines Vaters hat höhere Absichten. Sie will nicht nur das Ohr füllen, sondern das Herz in Bewegung setzen." Es gibt häufig einen Schlag in der Musik von Bach, der ein wenig langsamer ist als mein Herzschlag. Ich werde beim Zuhören ruhiger.
Kleiner Ausflug in meine große musikalische Leidenschaft, der Musik von Bach.
Nun verhält es sich mit dem Klavierspiel ähnlich dem damaligen Singen im Chor. Wenn ich vergleichend auf meine Chorerfahrung zurückgreife, ist es sehr wahrscheinlich das der Unterricht bei mir irgendwann auch zur Routine wird und ich entspannt und gelassen auf neu-zu-erlernendes reagieren kann.