April 2022

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April 2022  

Die Hilflosigkeit hält an. Berichte über Gräueltaten in der Ukraine, kontroverse politische Entscheidungen zum Thema, der Klimawandel, die dumpfen Holzköpfe und die unerträgliche Situation der Frauen in Afghanistan, Prognosen für den Herbst was Corona anbetrifft, eine neue Seuche geht durch die Presse. Meine Aufmerksamkeitsökonomie ist derzeit ein wenig überbelastet. Ich habe beschlossen mich für eine Weile von den Nachrichten fern zu halten. Meinen Patienten verbiete ich mit mir über das Thema Krieg zu sprechen. Die Tageszeitung führe ich mir sehr selektiv zu Gemüte. Und ich habe mir vorgenommen die Kinderbücher meiner Kinder wieder zu lesen. Eines nach dem anderen. Gut das wir sie alle aufgehoben haben. Fernseher habe ich keinen und das Autoradio wird zur vollen Stunde leise gestellt.
Ist das ein kindisches Verhalten? Wahrscheinlich ja. Aber notwendiger Selbstschutz.

Mich mit Musik zu befassen ist auch aus diesem Grund eine erstklassig und unübertreffliche Weltflucht. Die Wahrnehmung wird auf Töne, Melodien, Strukturen und Rhythmen gelenkt. Die Konzentration auf diese Dinge verhilft mir eine Parallelwelt zu betreten. Meine Schritte sind hier freilich nur winzig klein, aber es tut gut sich in dieser Anderwelt zu bewegen.

 

Die „Engelsstimmen“ mit ihren Arpeggien gehen nun schon um einiges flüssiger. Selbst wenn die Melodie in die linke Hand wechselt. Man kann den Unterschied zur rechten Hand zwar weiterhin sehr deutlich erkennen. Aber ich verspiele mich dabei nicht mehr so oft.
Die selbe Problematik taucht beim „Wilden Reiter“ auf. Die Arpeggien rechts kann ich manchmal so schnell spielen das ich selber über mich staune. Links hören sie sich leider eher nach einem Kaltblüter an, der auf der Wiesn die Fässer zu den Festzelten bringt. Schwerfällig und ruckelig weil auf den Festgassen soviel los ist. Und: ich „stottere“ immer wieder mit den Fingern bei dem Stück.

 

2April2022„Der erste Verlust“ hat im dritten System einige vertrackte Bewegungsfolgen. Noten sollen und müssen herunter gedrückt bleiben, ein oder zwei Finger wandern auf die nächsten Tasten während der eine noch liegenbleibt. Das fällt mir schwer und funktioniert nur wenn ich in Zeitlupentempo diese Tasten anschlage. Fünf, sechs Mal. Irgendwann klappt es immer besser.
Ich werde übermütig und finde das ich nun schon ganz gut geworden bin. Dann spiele ich die Takte davor und will das neu-gelernte in das, was ich bis jetzt schon kann, integrieren. Das funktioniert im Spielfluß nicht immer so gut wie gehofft. Und das Ende hat ein paar echt blöde Akkorde. Die muß ich jedes mal aufs Neue lesen, scharf nachdenken und anschließend für meine Finger übersetzen.
Ich hoffe das ich diese letzten vier Takte noch vor den Sommerferien erlerne.
Ich habe in einer Biographie über Schumann gelesen, das fast alle Titel aus dem Album der Jugend einen direkten Bezug zum schumannschen Familienleben haben: Erlebnisse, Eigenschaften und Taten seiner Kinder verwertete er gerne musikalisch. Mich würde interessieren welches Ereignisse zu diesem Stück beigetragen haben kann.

Der klassische Klavierlehrer bleibt im Unterricht heiter, geduldig und ruhig. Das beruhigt mich im Falle einer beginnenden Auflösung wenn ich mal nicht weiter weiß. Meist lenkt er mich mit etwas komplett anderen ab, so daß ich mich damit aus der Spirale von Selbstanklage und Verzweiflung heraus ziehen kann.

Im Jazzklavierunterricht dagegen hockt eine Sinnkrise hämisch grinsend in einer Ecke und reibt sich vergnügt ihre Hände.
Die vier Akkorde aus „Mannenberg“ kann ich zwar inzwischen schon ganz gut abrufen. Nun soll ich dazu improvisieren. Mein Versuch war wohl eher bescheiden gewesen. Rhythmisch nicht gut nachvollziehbar. Wie immer halt. Ich wiederhole besser nicht die Worte die der Dozent für mein Ergebnis benutzt hat. ;-)

Nun malt mir der Dozent in mein Heft (tatsächlich habe ich dieses Heft in der ganzen Zeit mit ihm erst zum dritten Mal zur Hand nehmen müssen. Und leider bin ich in den Schlamper-Schlendrian aus meiner Anfangszeit an der Jazzschool zurückgefallen) sechzehn 4/4 Takte hinein. In jedem dieser Takte verändert sich eine (oder mehrere Viertelpausen) und rutscht an eine andere Position. Und diese sechzehn Varianten soll ich im Raster der vier Akkorde anwenden. Erst einen, dann den zweiten Takt in die Finger bekommen. Danach beide hintereinander. Wenn das funktioniert den dritten in Angriff nehmen usw. Ich mag gar nicht gern das Wort in Angriff schreiben. Aber die Alternativen im Thesaurus sind auch nicht viel besser: Attacke, Zugriff, Anschlag, Überfall.

Ich zähle und versuche seeehr langsam die ganzen Zählzeiten und die „und“ in dem richtigen Raster zu finden. Ich danke aus vollstem Herzen allen Tüftlern und Ingenieuren für die Erfindung eines elektronischem Digitalpiano und den Kopfhörern. Bei diesen Übungen nerve ich zuhause so nur mich selbst aber keinen meiner liebenswürdigen Nachbarn.
Im Unterricht dagegen muß der arme Jazzpianodozent mein Herumgestolpere aushalten. Er hält es, ganz ehrlich, nicht immer gleich gut aus. Dann läuft er wie ein Panther im Käfig hinter mir auf und ab. Das ist in der speziellen Konstellation natürlich ganz und gar nicht hilfreich, denn sämtliche Antennen in mir fahren aus, sondieren die Spannungen und lenken mich ab. Meine kleine Bitte zum Niedersetzen kann er nicht nachkommen.
Aber ich weiß um seine Arbeitsbelastung und deshalb will ich seine Unruhe nicht zu persönlich nehmen.

Einen herzlichen Dank an G., die mich freundlicherweise auf das TV-Portrait von Abdullah Ibrahim im Bayrischen Fernsehen hingewiesen hat. Ich konnte mir die Aufzeichnung im Archiv auf einem großen Bildschirm ansehen. Und hat mir auch noch gut gefallen weil der Pianist in diesem Bericht wirklich sehr sympathisch dargestellt wird. Da mag man das happy-go-lucky Lied noch viel mehr.