Mal so nachgedacht

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April 2019
Es ergab sich eine Termin Rochade mit beiden Klavierlehrern. Mein Jazzdozent braucht einen freien Tag zu seiner eigenen Verfügung. Fünf Tage Unterrichten ist ihm zuviel. Das ist schon nachzuvollziehen. Es ist bestimmt nicht jeder so langsam wie ich, aber sich an so vielen Tagen jede halbe/dreiviertel Stunde auf einen neuen Schüler einzustellen, sich für jeden etwas Neues zum Lernen auszudenken, das bedeutet viel Vorbereitungszeit nebenher und ist ganz gewiss anstrengend. Wie ich beobachten kann, geht er sehr zuverlässig vor. Er hat stets einen Ordner dabei, in dem er notiert was wir gemacht haben und was bis zur nächsten Stunde durchgearbeitet werden soll, vielleicht ebenso in welcher Stimmung die Stunde verlaufen ist. Zu gern würde ich mal einen Blick in seine Aufzeichungen hinein werfen.
Mit dem Verschieben einiger Stunden konnte er einen Unterrichtstag an der Neuen Jazzschool reduzieren


Großer Zufall. Mein Klavierpädagoge möchte unseren Unterricht zur gleichen Zeit auf einen anderen Tag verlegen. Er unterrichtet seine Schüler in ihrem Zuhause und braucht unseren bisherigen Termin um neue Schüler in einer anderen Wohngegend zu besuchen. Für mich kein Problem und wenn es ihm viel Fahrzeit erspart, bin ich froh ihn unterstützen zu können.
Er hingegen führt kein Buch über das was wir uns in den Stunden erarbeiten. Entweder hat er ein so gutes Gedächtnis oder er geht da kreativer und spontaner als der Jazzpianodozent vor. Vielleicht ist es aber auch nur einfacher für ihn sich zu merken was wir gemacht haben, weil er meine drei Notenhefte, den Hanon, Burgmüller und Diabelli auf dem Klavier herumliegen sieht.

Er läßt mich manchmal zu Beginn der Stunde aus einem seiner vielen eigenen Klavierheften vom Blatt spielen. Manchmal sogar eine unbekannte Übung aus dem Hanon, aber richtig gerne mag er ihn nicht. Ich soll immer nur die erste Übung machen und mir den Rest des Kapitels schenken.
Vor ein paar Wochen habe ich „Für Elise“ versuchen sollen. Der Klavierpädagoge hat die linke Hand übernommen und ich rechts. Man hat die Melodie sogar erkennen können, das kann ich mit bescheidenem Stolz anmerken.
Vor kurzem habe ich zwei unbekannte Stücke vorgelegt bekommen. Entweder waren die superleicht oder ich war supergut drauf. Auf jeden Fall haben sich beide nicht schlecht angehört. Sein Lob konnte ich annehmen. Ich habe es ihm geglaubt weil ich selber hören konnte das es okay war.

Beim Clementi bin ich dann allerdings wieder ordentlich ins Stolpern gekommen.

Vor dem Verschieben der Stunden war Mittwoch und Donnerstag Unterricht. Beim Üben habe ich immer alles gleichzeitig/gleichwertig durchexerciert. Nun hat sich mein Überverhalten geändert. Kaum ist der Dienstag mit Jazzpiano vorbei, konzentriere ich mich auf Diabelli und Co. Streife die Akkorde und Kadenzen nur so nebenbei, damit ich sie nicht wieder völlig vergesse. Genauso verfahre ich nach dem Freitag und konzentriere mich auf den Dienstag um einigermaßen vorbereitet zu sein.
Dumm ist es nur, wenn ich dann wieder Wochenenddienst plus zwei Abenddienste habe. Da komme ich rein kräftemäßig zu keinem sinnvollen Üben. Montags ist mit Terminen angefüllt und ich bin den ganzen Tag kaum daheim. Dienstag siehts ähnlich aus; das heißt, ich bin Mittwochs meist ziemlich erledigt.

Der Tag mit seinen 24-Stunden ist viel zu kurz um all das unterzubringen was ich gerne tun möchte. Ich bräuchte ein zweites Leben neben dem Jetzigen um die Verpflichtungen zu erfüllen. Dann könnte ich im ersten all das machen was mich interessiert und mit dem ich mich lieber intensiver beschäftigen möchte.


Wie gerne würde ich beispielsweise wieder mehr lesen. Wie lange habe ich schon nicht mehr das Silmarillion gelesen, den Hobbit und die drei Bücher vom Herrn der Ringe? Ich lese sie immer hintereinander, und finde dann zwei oder drei Jahre später das ich genügend davon vergessen habe um sie mit gutem Gewissen erneut zu lesen. Ich liebe es in diese Geschichten von fast biblischen Ausmaß einzutauchen und die ganzen Verstrickungen mitzuerleben. Das ist wie alten Freunden nach langer Zeit wieder zu begegnen.

Und wie gerne würde ich mehr zeichnen und malen. Bestimmt habe ich nie besonders gut gezeichnet. Trotzdem hat mir immer Spaß gemacht und konnte damit sehr gut und konzentriert aus der Realität entfliehen. Das war, wie man heute so schön sagt, „quality time“ für mich selbst. Für niemanden anderen nützlich, nur für mich selbst.

 

Man könnte Parallelen zum Klavierspielenüben ziehen. Da hat auch niemand anderes etwas davon. Aber ich kann mich damit aus dem Alltag plus seinen vielen Verpflichtungen hinaus retten.

 

piano 7964 1920Vor kurzen wurde ich beim Üben am Klavier ziemlich traurig. Mal ausnahmsweise nicht wegen meinem Unvermögen und den ungeschickten Fingern. Mir kam der Gedanke, daß mein verstorbener Vater es zweifelsohne ganz großartig finden würde, daß ich mit dem Klavierspielen angefangen habe. Er wußte das dies lange ein großer Herzenwunsch von mir war. Und er hätte diesen Realisierungsversuch mit Enthusiasmus und Begeisterung begrüßt. Er würde das nicht aus einem profunden musikalischen Wissen gut finden, sondern nur weil ich es so gerne lernen möchte. So war er. Er hat mir immer das Gefühl vermittelt, daß es richtig und gut ist was ich tue.
Aber weil ich zu lange gebraucht habe, um endlich meinen Lebenswunsch zu verwirklichen, hat er das nie erfahren können. Es hätte mir sehr gut getan seinen Zuspruch zu erleben. Er war ein echter Menschenfreund. Immer voll positiver Rückmeldung und einem großen und warmen Interesse am Gegenüber.

 

Mein Mutter hingegen stammt aus einer musikalischen Familie und wurde in einer Stadt groß in der alle zwei Jahre eine Bachwoche stattfindet. Sie hatte an einem Ibach Flügel Unterricht und fände mein Unterfangen trotzdem völlig überflüssig und idiotisch. Ich schreibe absichtlich „fände“, weil sie in der Tat nichts davon weiß.
Habe ihr von meinem Plan noch nicht berichtet. Meine große Befürchtung ist, das sie mit geringschätzenden Bemerkungen mein Vorhaben schlecht machen würde.
Ich bin nicht sicher, wie und ob meine Psyche stark genug ist, um das wegen einer typisch schwierigen Mutter-Tochter-Konstellation zu verkraften.
Zwar hätte sie diese Information einmal schon fast erhalten. Ich hatte sie auf ein weiteres Konzert meines Klavierpädagogen eingeladen. Diesmal war es ein Sonatenabend mit Violine: Mozart, Janacek und Franck. Im Verlauf des Konzertes hätte ich ihr mitteilen wollen, daß der Typ, der da vorne am Klavier sitzt, mein Lehrer sei. Sie hatte an besagtem Abend keine Zeit, deshalb wurde es noch nichts mit meinem „Outing“.

 

Wenn ich das noch mal überlese, finde ich es sehr beklagenswert wie unsere Beziehung abläuft. Es ist so schade, das man als Erwachsener in einer gewissen Art und Weise immer ein unsicheres Kind bleibt. Und das die Verletzungen, die man im Laufe seines Heranwachsens erlebt hat, sich in einem nachhaltig manifestiert haben. Aber trotzdem gebe ich die Hoffnung nicht auf. (Denn diese schöne Eigenschaft besitzen auch unsichere Kinder: hoffnungsfrohen Optimismus) Bestimmt wird sich eines Tages eine Gelegenheit finden, in der ich meiner Mutter von dieser beglückenden, herausfordernden, anstrengenden und erfüllenden Entwicklung in meinem Leben berichten kann.
Natürlich hoffe ich auf der anderen Seite, ich bin ja auch Mutter, das ich nicht die gleichen Fehler mache die meine eigenen Eltern an mir vollzogen haben. Aber sehr wahrscheinlich habe ich andere dumme Fehler gemacht, die meine Kinder nur schwer verzeihen können und mir sehr wahrscheinlich eines Tages bei passender Gelegenheit vorhalten werden.

Ach. Es ist nicht immer leicht eine erwachsene Tochter zu sein. Und es ist wirklich nicht einfach eine gute Mutter zu sein, wenn man selbst das Gefühl hat noch ein Kind zu sein.
Blöd, wenn man beides zugleich in einer Person vereint ist.