Achte Stunde und Krise

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Keine Ahnung was mit mir los ist. Bin völlig frustriert und weinerlich aber zugleich auch wütend. Ich habe es geschafft mich selbst wieder mal in ein totales inneres Ungleichgewicht hinein zu manövrieren.
In der letzten Stunde war ich in keinster Weise mit mir zufrieden. Ich habe meine selbstgeschriebene Melodie vorgespielt. Die tolle Idee mit dem Taktwechsel vom 4/4 Takt in den 5/4 Takt hat sich gegen mich gekehrt. Ich bin im 4/4 Takt Rhythmus verhaftet geblieben und hab es nicht geschafft die Tempoänderung umzusetzen.

Ich bin außerdem nicht sehr erfreut über meine Unfähigkeit korrekt bis 5 zählen zu können. Noch schlimmer sogar: ich schaffe es nicht zu warten bis mein Lehrer, quasi als Aviso für mich, bis fünf zählt. Damit ich im nächsten Takt auf die Eins einsetzen kann und zudem eine Vorstellung von der Dauer dieses Taktes bekomme. Ich setze immer bei der Fünf, also einen Schlag zu früh ein. Ein Großteil der Stunde haben wir für diese Problematik aufwenden müssen. Je mehr ich versucht habe, es rhythmisch richtig zu machen umso falscher wurde alles. Und ich habe in diesem Moment gar nicht verstanden wo die Schwierigkeit lag. Ich habe nur gemerkt in mir will irgendwas nicht den Anweisungen folgen. Erst später, daheim, ist mir langsam klar geworden, wo genau mein Problem gelegen war.

piano keys 233675 1920Das schöne "Townhall Square" spiele ich zu zaghaft. Die Klaviertaste schafft es nicht die Saite voll erklingen zu lassen. Ich muß mich mehr mühen  [tolle Alliteration. ;-) ]  beherzt auf die Tasten zu drücken.
Ich stelle mir die Frage, so deprimiert wie ich heute bin, was sagt das über mich und meine Persönlichkeit aus? Wenn ich noch nicht einmal in einer Unterrichtstunde traue mich hörbar zu machen?
Beim "Townhall Square" habe ich mir im da capo Teil an einigen Stellen etwas Neues einfallen lassen. Ich weiß nicht ob sie gut waren, weil ich an der Reaktion vom Dozenten nicht erkennen konnte ob die Variationen passend waren. Ich war hartnäckig und habe mit einer direkten Nachfrage versucht Klarheit zu bekommen. Die Antwort wurde trotzdem nicht sehr konkret. So in diesem Sinne: es ist alles erlaubt was gut klingt. Aber ich könne mir da gerne noch weiteres und passendes ausdenken.
Ein wenig mehr Enthusiasmus oder Ermunterung an dieser Stelle hätte mir schon ganz gut getan.

Hausaufgabe fürs nächste Mal: ich soll wieder was "komponieren"! Hah. Um bekannte Tempo/Rhythmuskomplikationen zu vermeiden, am besten was in halben Noten und ohne Taktwechsel. Ich konnte es nicht fassen. Wieder so etwas, bei dem ich keine Ahnung habe wie es klingen könnte und mit dieser Notenwerteinschränkung von der ich glaube das es stinklangweilig zum Anhören sein wird.
Ich habe ihm zwei-, dreimal ausdrücklich zu verstehen gegeben, daß mir das sicherlich keinen großen Spaß machen und deshalb nichts brauchbares dabei rauskommen wird. Hat ihn offenkundig leider gar nicht interessiert.

Warum nur finde ich dieses Zusammensetzten eines Notengerüstes so ätzend? Ich denke mir, ich befinde mich in einem Entwicklungszustand, in dem ich bei der Hand genommen und geführt werden muß. Ich habe noch keine technische Basis auf der man bauen könnte? Ich befinde mich im musikalischen Kleinkindalter. So versuche ich mehr oder weniger hilflos etwas aus der Luft zu ergreifen was hübsch klingen könnte oder einigermaßen passt. Aber so ins Blaue hinein? Ich habe immer das Gefühl es ist nie das was es sein soll oder könnte. Es ist ja bekanntermaßen eine Technik, die man erlernen kann. Und noch habe ich keine Vorkenntnisse um die Regeln aus der Harmonielehre zu beachten.

Es ist leichter für mich die wenigen Stücke, die wir bereits durchgenommen haben, zu spielen. Zwar läßt mich meine Unkonzentriertheit sie immer wieder und wieder verspielen.
Nächste Frage die mich umtreibt: sollte ich denn die Melodien schon fehlerfrei spielen können? Eigentlich denke ich das müßte schon möglich sein. So schwierig sind sie nicht. Oder aber sind mir noch Fehler gestattet? Vielleicht sehe ich das zu streng und setze mich zu sehr unter Druck. Vielleicht sollte ich freundlicher zu mir sein.

Ich mache mir Gedanken über meinen Lehrer. Insgesamt scheint er ein zurückgenommener und nachdenklicher Junge zu sein. In den ersten Wochen hat mich, wenn ich in der Schule angesprochen wurde, jeder gedutzt. Er ist der einzige der mich siezt. Das fühlt sich ungewöhnlich an, aber es passt zu seinem zurückhaltendem Wesen. Ich sieze ihn halt auch. Seine Mitschüler trampeln oder springen die Treppen hinauf oder runter. Ihn hört man kaum, wenn er wie eine Katze, so leise und still das Stockwerk wechselt.
Einmal habe ich ihn gefragt wie er seine Ferien verbracht hat. Die Antwort war ein Meisterwerk! Reich an Andeutungen und Umschreibungen: was er alles hätte tun wollen, aber nicht getan hat, dafür gemacht, was er nicht geplant hat. Ergo: ich habe keine Ahnung wie die Ferien nun wirklich verlaufen sind. Auf der Metaebene übersetze ich dies mit: eigentlich geht es dich gar nichts an, was ich in der Zeit gemacht habe.
Im übrigen weiß er nicht das ich an diesem Blog arbeite.

Er erzählte mir von drei Instrumenten die er spielen kann. (Ist man da schon ein Multiintrumentalist?) Wahrscheinlich spielt er noch drei weitere, von denen ich nur noch nichts weiß. Und spricht trotz seiner jungen Jahre so klug und verständig über Musik, (erstaunlicherweise auch über Klassische) das mich glühender Neid durchfließt. Wenn ich in der Stunde Klavier spiele, sehe ich im hochglänzenden Lack des Instrumentes wie er sehr genau zuhört und oft für mich den Takt mitschlägt. Als wenn er dabei seine Energie auf mich übertragen möchte. Das ist rührend und ernsthaft, leider findet es bei meinem nächsten Fehler recht schnell wieder ein Ende.
Darüber hinaus habe ich den unbestimmten Eindruck er möchte noch was anderes aus meinem Spiel heraushören. Nicht ob ich Fehler mache oder rhythmisch richtig bin. Nichts technisches, sondern eher etwas emotionales. Es ist schwer das zu beschreiben: als wenn er dabei versucht in mein Inneres zu blicken um mich erkennen zu können. Unheimlich, und es verunsichert mich etwas.
Auf der anderen Seite ist es beeindruckend wie er mir sehr konzentriert, sachlich und wohlformuliert Anweisungen oder Vorschläge im Unterricht erteilt. Da wird aber auch gar nichts schwammig oder unstrukturiert benannt.

Anfangs war ich wütend auf den Dozenten, wegen dieser blöden Improvisationsaufgabe auf die ich keine Lust habe. Beim Schreiben von diesem Beitrag habe ich erkannt, das mein Ärger anfing, als ich die Schwierigkeiten mit dem Taktwechsel hatte. Da hat sich die Enttäuschung über mich selbst in Zorn auf ihn umgelenkt. Interessant! Wie oft findet im Privatleben so eine Stellvertretersituation oder Übertragung statt? Und im Nu man hat den schönsten Streit.
Dann kam drei Tage später ein Brief von der Beruffachschule für Rock, Pop und Jazz. Oh je! Ich habe mich fast nicht getraut ihn zu öffnen. Ich dachte die Schulleitung kündigt mir nun den Vertrag, weil ich mich als unbelehrbar und unbeschulbar erweise. Habe befürchtet mein feinfühliger Dozent hat meinen unterschwelligen (oder vielleicht auch nicht ganz so unterschwelligen) Ärger wahrgenommen und fühlt sich nun außerstande mich weiter zu unterrichten.
War zu meiner großen Erleichterung, Gottseidank, aber nur eine Information über die neue DSGVO.